Newsletter 03 / Mai 2021

Olympische Spiele Tokyo: Interview mit dem Schweizer «Chef de Mission»

Vor elf Jahren holte er bei den Olympischen Spielen in Vancouver als Skip der Schweizer Curler die Bronze-Medaille. Jetzt ist Ralph Stöckli «Chef de Mission» des Schweizer Olympia-Teams in Tokio.

Was sind die drei wichtigsten Aufgaben eines «Chef de Mission» bei Olympischen Spielen?
Die Aufgaben eines «Chef de Mission» sind sehr vielfältig. Da ist es schwierig, die drei wichtigsten herauszustreichen. Man kann vielleicht sagen, ich trage die Hauptverantwortung, damit die Schweizer Sportlerinnen und Sportler an den Olympischen Spielen bestmögliche Rahmenbedingungen vorfinden. Dazu gehören das Erstellen der Selektionskriterien (in Absprache mit den Sportverbänden), die Planung der Reise, Unterkunft und Vorbereitung, die Sicherstellung der optimalen medizinischen Betreuung vor Ort und die Kommunikation. Damit dies alles funktioniert, kann ich zum Glück auf die Unterstützung eines eingespielten Teams zählen.

 

Nach Rio 2016 und Pyeongchang 2018 erfüllst du nun zum dritten Mal dieses Amt. Was wird dieses Jahr anders sein in Tokio?
Die Olympischen Spiele in Tokio werden aufgrund der Coronapandemie ein aussergewöhnlicher Anlass sein. Um das Ansteckungsrisiko aller Beteiligten inklusive der Bevölkerung in Tokio zu minimieren, gelten strikte Regeln. Die Athletinnen und Athleten werden mehrheitlich unter sich bleiben. Die Vermischung der Delegationen und Nationen, welche ja gerade auch die Olympischen Spiele ausmacht, wird es diesmal kaum geben. Das ist schade, doch es ist sicher der richtige Weg, um die Sicherheit und Gesundheit aller möglichst zu garantieren.

 

Es wird in Tokio aus Pandemiegründen kein «House of Switzerland» geben. Wo werdet ihr feiern?
Das ist eine gute Frage. Doch wir rechneten wegen der Pandemie schon länger damit, dass die Erfolge diesmal leider nicht im gleichen Rahmen gefeiert werden können. Ich denke aber, die Athletinnen und Athleten werden eine coronakonforme Möglichkeit finden, zu feiern. Zunächst gilt es allerdings, die gesteckten Ziele zu erreichen. Und dem gilt sicher der Fokus aller.

 

Mit welchen Herausforderungen sahst du dich wegen der Verschiebung der Olympischen Spiele konfrontiert?
Ich kann an dieser Stelle vielleicht sagen, dass wir froh um die Verschiebung waren. Im Frühjahr 2020 fielen auf einen Schlag praktisch alle Qualifikationswettkämpfe weg. Ausserdem konnten unsere Athletinnen und Athleten phasenweise nicht trainieren, weil die Sportanlagen, Schwimmbäder usw. geschlossen waren. Das war für sie, für die Verbände und auch für uns stressig. Die Verschiebung hat diesbezüglich eine Entlastung gebracht. Nach und nach haben wir die Vorbereitungen auf die Spiele in Tokio wieder aufgenommen. Teilweise konnten wir dort weitermachen, wo wir 2020 aufhören mussten. Allerdings war und ist nach wie vor vieles unklar. Wir müssen daher flexibel bleiben, und zwar bis zum Ende der Spiele, denke ich.

 

Was bedeutet das für die Selektion der Athletinnen und Athleten?
Die Absage oder Verschiebung der Qualifikationswettkämpfe sorgte und sorgt natürlich betreffend Selektion für eine gewisse Verspätung und eine entsprechende Unsicherheit bei der Planung. Es gibt auch Sportarten, bei denen nicht klar ist, ob alle Qualifikationswettkämpfe noch wie geplant stattfinden können. Das ist insbesondere für die Athletinnen und Athleten belastend. Seitens Swiss Olympic versuchen wir auch hier, so flexibel wie möglich zu bleiben. Wir haben einen regelmässigen, sehr guten Austausch mit den Leistungssportverantwortlichen der Verbände. Aus diesem Grund bin ich sicher, dass am Schluss jene zum Swiss Olympic Team in Tokio gehören werden, die das verdient haben.

 

Welche Schweizer Sportlerinnen und Sportler mit Sporthilfe-Förderbeiträgen wurden bisher für Tokyo 2021 selektioniert?
Von den 18 Athletinnen und Athleten, die von Swiss Olympic bereits selektioniert wurden und deren Olympia-Teilnahme somit feststeht, werden allesamt von der Schweizer Sporthilfe unterstützt. In den nächsten Wochen werden aber noch viele weitere dazukommen. Schliesslich rechnen wir mit einer Delegation von über 100 Athletinnen und Athleten aus der ganzen Schweiz. Viele von ihnen würden nicht in Tokio an den Start gehen, wenn sie während ihrer Laufbahn nicht auf die wertvolle Unterstützung der Sporthilfe hätten zählen dürfen.

 

In welchen Disziplinen siehst du dieses Jahr die besonderen Stärken der Schweizer Delegation – und wo kann es Überraschungen geben?
Puh, das ist schwierig zu sagen. Ich denke, die Schweizer Delegation wird sich wie immer durch grosse Vielseitigkeit auszeichnen. Persönlich bin ich gespannt, wie sich etwa die positive Entwicklung des Schweizer Schwimmsports und der Leichtathletik in den letzten Jahren nun im Rahmen der Olympischen Spiele widerspiegelt. Aber auch auf die Auftritte unserer Routiniers wie Roger Federer, Nicola Spirig und Heidi Diethelm Gerber freue ich mich enorm. Gewinnen sie bei ihrem womöglich letzten Olympia-Auftritt noch einmal eine Medaille?

 

Wage bitte eine Prognose: Wie viele Medaillen werden die Schweizer Athletinnen und Athleten nach Hause bringen?
Diese Prognose ist immer sehr schwierig. Vor Tokyo 2021 ist sie sogar noch schwieriger als sonst, weil alles so aussergewöhnlich ist bei der Vorbereitung. Sagen wir es mal so: Von den Olympischen Spielen in Rio sind wir mit sieben Medaillen zurückgekehrt, und im Sport will man sich ja immer verbessern. Deshalb sollte es in Tokio das Ziel sein, mindestens eine Medaille mehr zu gewinnen. Aber wir wissen alle, was passieren kann ‒ und auch, wie knapp ein Wettkampf zu unseren Gunsten oder Ungunsten ausgehen kann. Fast wichtiger als das Medaillenziel ist daher, dass es den Athletinnen und Athleten gelingt, ihr Potenzial optimal auszuschöpfen. Und hoffentlich reicht das dann zu möglichst vielen Medaillen.

 

Welchen Anteil hat die Schweizer Sporthilfe an einem möglichen Schweizer Medaillenerfolg?
Einen sehr grossen! Für die meisten Olympia-Teilnehmenden, egal ob aus grossen oder kleineren Sportarten, ist der Support der Sporthilfe von enormer Bedeutung für ihren Weg an die Spitze. Ich bin auch sicher, dass diese Vielfalt im Schweizer Spitzensport, von der ich gesprochen habe, viel kleiner wäre ohne diesen Support. Auch im Namen von Swiss Olympic möchte ich mich daher für den grossen Einsatz der Sporthilfe bedanken!

 

Weisst du schon, wer Fahnenträgerin oder Fahnenträger wird?
Ich weiss ja noch nicht einmal abschliessend, wer alles zur Delegation gehört (lacht)! Im Ernst: Das steht aktuell noch nicht fest. Natürlich habe ich den einen oder anderen Namen im Kopf, doch entscheiden werde ich das erst relativ kurz vor der Eröffnungsfeier. In Tokio werden wir übrigens zum ersten Mal die Möglichkeit haben, eine Fahnenträgerin und einen Fahnenträger zu nominieren. Ich gehe davon aus, dass wir diese Möglichkeit nutzen.